(Institut für Biochemie I)
Das Aktincytoskelett besteht aus einer Vielzahl von Einzelmolekülen, die zu Filamenten und daraus aufgebauten Überstrukturen zusammengefügt sind und einem ständigen Umbau unterliegen. Diese kontinuierliche Reorganisation ist unabdingbar für die Zellteilung, die Ausprägung der Zellmorphologie sowie für Zelladhäsion oder Migration und ermöglicht die Reaktion auf innere und äußere Reize. Solche Prozesse spielen z.B. während der Embryonalentwicklung, der Wundheilung, aber auch bei der Ausbildung von Nervenzellnetzwerken eine wesentliche Rolle.
Bei der Untersuchung der molekularen Mechanismen und zellulären Funktionen von Komponenten des Aktincytoskeletts stehen die Maschinerien, die den kritischen Schritt in der Aktinfilamentbildung katalysieren, die Aktinnukleatoren, im Mittelpunkt unseres Interesses.
Sowohl die morphologische und die funktionelle Organisation zellulärer Membranstrukturen und -kompartimente als auch Membrantransportprozesse sind von einem koordinierten Zusammenspiel einer Reihe von Molekülen am membrannahen (cortikalen) Aktincytoskelett abhängig.
Der Aktinnukleator Cordon-Bleu (Cobl) - Aufkärung von Regulationsmechanismen und zellulärer Funktion
Aktinfilamentpolymerisation ist essentiell für so unterschiedliche Prozesse wie Zellmorphologiekontrolle, die Ausbildung multizellulärer Netzwerke, Zellmigration und Membrantransportprozesse. Unabdingbar ist dabei eine enge räumliche und zeitliche Kontrolle der Nukleation von Aktinfilamenten. Mit dem multiple WH2 Domänen-enthaltenden Protein Cobl haben wir einen neuen und sehr potenten Aktinnukleator identifiziert (Ahuja et al. 2007, Cell). Unsere Studien haben dabei enthüllt, dass Cobl eine wesentliche Rolle in der korrekten Ausbildung der Morphologie neuronaler Zellen spielt - eine Grundvoraussetzung für die Bildung funktioneller neuronaler Netzwerke (Ahuja et al. 2007 Cell; Schwintzer et al. 2011 EMBO J.; Hou et al. 2015 PLoS Biol.; Hou et al. 2018 Dev. Cell).
Die erfolgreiche Erzeugung Cobl-defizienter Organismen (Haag et al. 2018 Cell Rep.) erlaubte uns zudem bereits erste Einsichten in die Rolle dieses neuen Aktinnukleators für die Entwicklung, Differenzierung und Funktion von Zellen im intakten Organismus. Diese Analysen zeigen unter anderem eindrucksvoll, dass verschiedene Typen von ciliären Strukturen auf die Funktion des Aktinnukleators Cobl angewiesen sind. Die ordnungsgemäße Entwicklung des Cochlea-Haarzellen-Arrays und die Positionierung der Sinnesapparate werden durch die Signaltransduktionswege der planaren Zellpolarität erreicht. Unsere Analysen zeigen, dass der Aktinnukleator Cobl ein wichtiger Effektor bei der postnatalen Verfeinerung und Aufrechterhaltung der planaren Zellpolarität ist (Haag et al. 2018 Cell Rep.). Während der kritischen Zeit des Hörbeginns fielen diese Polaritätsdefekte mit einem verminderten F-Aktingehalt und einer vorzeitigen Retraktion des Kinociliums zusammen. Diese Defekte gingen mit organisatorischen Defekten des perizentriolaren Gerüsts bei Cobl-KO-Mäusen einher, die von Aktinpolymerisation und von Calcium/Calmodulin-Signalen abhängig waren. Die von uns entdeckten Cobl-abhängigen Prozesse zur Aufrechterhaltung und Verfeinerung der planaren Zellpolarität scheinen für das Hören von entscheidender Bedeutung zu sein, da Cobl-KO-Mäuse eine mangelhafte Cochlea-Verstärkung aufweisen (Haag et al. 2018 Cell Rep.).
Unsere Untersuchungen zeigten außerdem, dass der Aktinnukleator Cobl wesentlich an der Bildung einer der Zellstrukturen des mit Bürstensaum dekorierten apikalen Kortex von Enterozyten beteiligt ist, der die absorbierende Darmoberfläche darstellt. Quantitative Analysen unter Verwendung sowohl klassischer ultrastruktureller Methoden als auch einer Kombination aus deep-etching und hochauflösendem Scanning-Elektronenmikroskopie von intakten Darmgewebeproben lieferten einzigartige Einblicke in die Bürstensaumorganisation und die entscheidende Rolle des Aktinnukleators Cobl (Beer et al. 2020 Sci. Rep.).
Abbildung: Mikrovilli-dekorierter apikaler Cortex von Darmepithelzellen (Enterozyten) visualisiert mittels einer Kombination von deep-etching und hochaufgelöster Rasterelektronenmikroskopie von Darmproben (Beer et al. 2020, Sci. Rep.).
Ein ischämischer Schlaganfall ist eine der Hauptursachen für Tod und langfristige Behinderung. Unsere Studien zeigen, dass die Auslösung eines ischämischen Schlaganfalls bei Mäusen Schäden in der dendritischen Verzweigung in Periinfarktbereichen verursacht, die dann durch Prozesse des dendritischen Nachwachsens repariert werden, die vom Aktinnukleator Cobl abhängig sind. Bei Cobl-Knockout-Mäusen verlief das dendritische Reparaturfenster bemerkenswerterweise ohne jegliches dendritisches Nachwachsen. Unsere Ergebnisse unterstreichen damit einen leistungsstarken Erholungsprozess nach einem Schlaganfall und identifizierten kausale molekulare Mechanismen, die für die Reparatur nach einem Schlaganfall von entscheidender Bedeutung sind (Ji et al. 2021 PLoS Biol.).
Unsere Analyse der Auswirkungen eines Verlustes von Cobl auf Zell-, Organ- und Gesamtorganismusebene erweitert entscheidend unser molekulares Verständnis der Funktionen des kortikalen Aktincytoskeletts - Funktionen, die unabdingbar sind für das Leben aller höherer Eukaryonten.
Funktionelle gegenseitige Abhängigkeit des Aktinnukleators Cobl und Cobl-like bei der Entwicklung von Dendriten
Die Bildung lokaler Aktinfilamente ist für die Entwicklung des Dendritenbaums von Neuronen unerlässlich. Überraschenderweise zeigen unsere Untersuchungen, dass die Wirkung einzelner Aktinfilament-fördernder Faktoren nicht ausreichte, um die Dendritogenese voranzutreiben. Stattdessen erforderte dies, dass der Aktinnukleator Cobl und sein einziger evolutionär entfernter Vorfahr Cobl-like gemeinsam in funktioneller gegenseitiger Abhängigkeit agierten (Izadi et al. 2021 eLife).
Interessanterweise hatten unsere Studien gezeigt, dass auch Cobl-like für die Ca2+/Calmodulin-kontrollierte Neuromorphogenese wichtig ist (Izadi et al. 2018 J. Cell Biol.). Während Cobl drei Wiskott-Aldrich-Syndrom-Protein Homologie-2-Domänen (WH2) zur Aktin-Keimbildung verwendet (Ahuja et al. 2007 Cell), nutzt Cobl-like einen einzigartigen kombinatorischen Mechanismus bestehend aus einer G-Aktin-Bindung durch seine einzelne C-terminale WH2-Domäne und einer Ca2+/Calmodulin-geförderten Assoziation mit dem F-Aktin-bindenden Protein Abp1 zur Förderung der Bildung von Aktinfilamenten (Izadi et al. 2018 J. Cell Biol.).
Die Koordination zwischen Cobl-like und Cobl wird durch physische Verknüpfung durch das membranbindende F-BAR-Protein Syndapin I erreicht. Unsere Analysen enthüllten, dass Syndapin I mit Cobl-like interagiert und spezifisch in Nanoclustern an den konvexen Membranoberflächen an der Basis von sich bildenden Membranprotrusionen sich entwickelnder Neuronen lokalisiert (Izadi et al. 2021, eLife). Syndapin interagierte mit drei Motiven in Cobl-like, von denen eines Ca2+/Calmodulin-reguliert war. Konsequenterweise waren Syndapin I, die neu identifizierte N-terminale Calmodulin-Bindungsstelle von Cobl-like und das einzelne Ca2+/Calmodulin-responsive Syndapin-Bindungsmotiv allesamt entscheidend für die Funktionen von Cobl-like (Izadi et al. 2021 eLife).
Wir konnten somit zeigen, dass die lokale Ca2+/CaM-kontrollierte Aktindynamik bei der Entwicklung des Dendritenbaums auf regulierten und physikalisch koordinierten Wechselwirkungen verschiedener Faktoren, die die Bildung von F-Aktin fördern, beruht. Nur zusammen haben diese die Kraft, die anspruchsvollen neuronalen Morphologien herbeizuführen, die für die Bildung neuronaler Netzwerke in Säugetieren erforderlich sind.
Molekularmechanistische Eigenschaften neuer Mitglieder der N-Ank Superfamilie, ihre Funktionen und ihr Zusammenspiel mit BAR-Domänen-Proteinen in der Modulation von Membrantopologien und in der Gestaltbildung von Zellen
Die Formgebung von Membranen ist für die Etablierung, den Erhalt und die plastische Veränderung der Morphologie von Zellorganellen und ganzen Zellen entscheidend. Proteine, die die erforderlichen lokalen Änderungen der Membrantopologie auslösen können, stoßen daher auf großes Interesse. Ankyrin-repeats nehmen eine gekrümmte Überstruktur an und sind eines der häufigsten Strukturmerkmale in Proteinen. Wir haben – hauptsächlich basierend auf exemplarischen Untersuchungen von Ankycorbin - kürzlich vorgeschlagen, dass eine neu identifizierte Gruppe von Ankyrin-repeat-enthaltenden Proteinen, welche wir N-Ank-Proteinsuperfamilie genannt haben, eine Kombination aus einer amphipathischen α-Helix und krümmungs-erkennenden Ankyrin-repeats verwendet, um Membranen zu formen (Wolf et al. 2019 Nat. Cell Biol.).
Unserer Identifizierung einer Ankycorbin-Interaktion mit einer anderen, distinkten Proteinfamilie von Membranformern (Izadi et al. 2023 J. Cell Biol.) wird darüber hinaus als spannender Ausgangspunkt für Studien verwendet, die untersuchen, ob und in welchem Umfang verschiedene Membrantopologie-erkennende und – verändernde Proteins miteinander kooperieren, um Membranen und/oder ganze Zellen in ihrer Gestalt zu beeinflussen. Wir gehen diesem neuen Konzept daher mittels umfassender biochemischer Studien sowie mittels hochauflösender Bildgebung und funktioneller Analysen nach (Izadi et al. 2023 J. Cell Biol.). Zusammengenommen werden unsere Studien der Mechanismen und der Funktionen neuer N-Ank-Superfamilienmitglieder in der Neuromorphogenese und unsere Untersuchungen ihrer physischen und funktionellen Wechselwirkungen mit anderen Membrantopologie-verändernden Proteinen ein wichtiges, neues Kapitel im Verständnis der Morphogenese zellulärer Membranen und ganzer Zellen aufschlagen.
Nicht nur die Neuromorphogenese sondern auch die synaptische Plastizität erfordert die ordnungsgemäße Etablierung und Plastizität struktureller und funktioneller Mikrodomänen. Mithilfe einer Kombination aus schneller Kryofixierung, Membrangefrierfraktur, Immungoldmarkierung und Elektronenmikroskopie lieferte unsere aktuelle Studie ultrahochauflösende Ansichten des Membranlipids PIP2 während der Induktion von Langzeitdepression (LTD). Sie deckte dabei die räumlichen und zeitlichen Prinzipien sowie die molekularen Mechanismen auf, die PIP2-Signalen sowie ihrer rechtzeitigen Beendigung während der LTD-Induktion in Subdomänen der Membran von dendritischen Dornfortsätzen zu Grunde liegen (Hofbrucker-MacKenzie et al. 2023 Comm. Biol.).
weitere Forschungsprojekte am Institut siehe
Institut für Biochemie I - Britta Qualmann