Die Symptome in ihrem Gesicht kommen urplötzlich: Auf einmal fühlt sich die Stirn unnatürlich glatt an und der rechte Mundwinkel gehorcht nicht mehr. Von jetzt auf gleich kann Sieglinde Strobel nicht mehr aus einer Tasse trinken, auch das Auge tränt. Beunruhigt ist sie zunächst nicht, sie denkt an ein Problem mit dem Kiefer und macht sich umgehend auf den Weg zu ihrer Zahnärztin. Die vermutet ob der Lähmungssymptome einen Schlaganfall und reagiert sofort. Die Jenaerin kommt als Notfall ins Universitätsklinikum Jena. Die Untersuchung durch die Neurologen bringt schnell Gewissheit: kein Schlaganfall, aber eine Gesichtsnervenlähmung, von Medizinern Fazialisparese genannt. Immerhin etwa 20 000 Menschen trifft die Erkrankung Jahr für Jahr deutschlandweit.
Sieglinde Strobel wird stationär in der HNO-Klinik am UKJ aufgenommen und erhält dort mehrere Tage Infusionen mit Kortison und virenhemmenden Medikamenten (Virostatika), um die Entzündung einzudämmen und Viren als möglichen Auslöser in Schach zu halten. „Bei der großen Mehrzahl der von einer Fazialisparese Betroffenen erholt sich der gelähmte Gesichtsnerv nach einer solchen Therapie wieder, die Erkrankung heilt nach und nach aus“, erläutert Dr. Gerd Fabian Volk. „Bei bis zu dreißig Prozent der Erkrankten allerdings wird sie chronisch mit anhaltenden Defiziten und oft dauerhaften Koordinationsstörungen der Gesichtsmuskulatur.“ Der Oberarzt an der HNO-Klinik leitet das seit 2012 bestehende Fazialis-Nerv-Zentrum am UKJ. Das Zentrum ist eine gemeinsame Einrichtung der Kliniken für HNO und Neurologie sowie des Lehrstuhls für biologische und klinische Psychologie am Institut für Psychologie an der Universität Jena.
Augen öffnen und schließen, Lächeln, die Stirn in Falten legen, die Nase krausen oder die Mundwinkel nach unten ziehen – solche Bewegungen produziert das Gesicht normalerweise unzählige Male am Tag. Verantwortlich dafür sind 23 verschiedene Muskeln je Gesichtshälfte. Angesteuert werden sie vom Gehirn durch den Gesichtsnerv (Nervus Facialis), der hinter dem Ohr in den Gesichtsbereich eintritt und sich dort verzweigt. Bei einer Fazialisparese funktioniert diese Ansteuerung wegen der Nervschädigung nicht. Erkrankte können zum Beispiel das Augenlid der betroffenen Seite nicht richtig schließen, die
Augenbraue nicht bewegen, Lippen und Mundwinkel lassen sich nicht richtig öffnen. Auch Geschmacksempfinden und Gehör können gestört sein.
Ursachen für den Nervschaden können zum Beispiel eine durch Zecken übertragene Borreliose, Herpes-Zoster- Viren, Tumoren der Ohrspeicheldrüse oder Verletzungen durch Unfälle oder Operationen sein – wobei das Ausmaß der Lähmung vom Schweregrad der Nervschädigung abhängt. Diagnostiziert wird unter anderem mittels Elektromyografie (EMG), bei der die elektrische Gesichtsmuskelspannung gemessen wird. Auch ein Hör- und Schmecktest, die Untersuchung des Gleichgewichtsorgans und Labortests – zum Beispiel zum Nachweis eines Borrelienbefalls – gehören zur Diagnostik.
Häufig ist eine konkrete Ursache aber auch nicht feststellbar, Mediziner sprechen dann von einer idiopathischen peripheren Fazialisparese. Eine solche Form hat Sieglinde Strobel, die Ende 2014 erkrankte, getroffen. „Ein Augenunterlid hing schlaff herab, die Augenbrauen konnte ich nicht bewegen, Lippen und Mundwinkel nicht heben“, blickt sie zurück. Große Probleme habe ihr die Lähmung beim Essen oder Trinken bereitet. „Es ging eigentlich nur mit Schnabeltasse oder Strohhalm.“ Der Leidensdruck sei hoch gewesen. Das erleben die Mediziner und Therapeuten im Fazialis-Nerv-Zentrum immer wieder. Dass die Mimik- und Funktionsdefekte im Gesicht für jeden sichtbar sind, macht sie für die Betroffenen auch psychisch belastend.