"STUFENPLAN", ÜBERTRAGUNG, GEGENÜBERTRAGUNG

ZUR INTEGRIERBARKEIT VERHALTENSTHERAPEUTISCHER METHODEN IN EIN STATIONÄRES TIEFENPSYCHOLOGISCHES KONZEPT FÜR ESSGESTÖRTE JUGENDLICHE

Dr. med. C. Stockmann-Fleck

Psychosomatische Station

KJPPP des Universitätsklinikum Jena

Matthias Bolz

Tagesklinik Altenburg

KJPPP des Universitätsklinikum Jena

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Block I
Erkrankungsmodelle und Behandlungskonzepte der Anorexia nervosa in der Adoleszenz

Biologische Psychiatrie

Grundmodell

  • genetische Ursachen schaffen spezifische Vulnerabilität
  • genetische Veränderungen, die sich auf zentrale Mechanismen der neurohormonellen Regulation beziehen, scheinen bei Magersüchtigen häufiger vorzukommen
  • malnutritiv bedingte Veränderungen im Hormon- und Neurotransmitterhaushalt

Schwerpunkt

  • Die vorliegende malnutritiv bedingte Gehirnfunktionsstörung und andere körperliche Beschädigungen können durch Normalisierung der Nahrungszufuhr und damit des Gewichts reduziert werden.
  • Gewichtsaufbau, medizinisches Management der Folgen der Mangelernährung
  • Milderung der Hirnfunktionsstörung sowie der komorbiden Erkrankungen durch psychopharmakologische Interventionen möglich.

Technik

  • ärztlich-direktives Handeln
  • Zwangsernährung, teils mit hohe Kalorienzufuhr pro Tag, Sondierung ist als zu rechtfertigende Maßnahme bei bedrohter Vitalität möglich
  • Psychoedukation von Patienten und Bezugspersonen
  • psychopharmakologische Therapie

Verhaltenstherapie

Grundmodell

  • lerntheoretisch (maladaptive Lernprozesse)
  • kognitiv (dysfunktionale Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster)
  • Verstärkungsmodell

Schwerpunkt

  • Erreichung von gesünderem Gewicht und Vermitteln und Erlernen von gesundem Essverhalten
  • supportives, teils direktives Vorgehen
  • Motivation aufbauen und halten
  • Abbau symptomverstärkender Bedingungen
  • Aufbau alternativer Verhaltensweisen

Schwerpunkt

  • Vermittlung von Fertigkeiten zur selbständigen Problemlösung
  • Auflösung suboptimaler kognitiver  und affektiver Strategien
  • Bearbeitung der Körperschemastörung und Gewichtsphobie

Technik

  • Handlungsorientierung, mehr als nur Reflexion und Gewinnung von Einsichten, Erproben von neuen Handlungs- und Erlebnisweisen
  • „Hilfe zur Selbsthilfe“, Stärkung von Eigenverantwortung und Eigenaktivität des Patienten
  • Psychoedukation von Patienten und Bezugspersonen

Technik: Operante Verfahren

  • Analyse von Auslösesituationen, Situationen, Bedingungen
  • Gewichtszunahme, gesünderes Essverhalten positiv verstärken
  • Stufenplan als Teil des Verstärkersystems im stationären Setting

Technik: Kognitive Verfahren

  • Essstörung als etwas Außenstehendes, der Persönlichkeit ursprünglich nicht Zugehöriges ansehen lernen
  • Techniken für kurzfristige Affektregulation
  • Bearbeiten automatischer Kognitionen
  • Bearbeitung, Milderung bzw.Korrektur dysfunktionaler Gedanken

Technik: Symptomarbeit

  • strukturierte "Esstage", “schwarze Liste“ abbauen, Mahlzeitenprotokolle (Kognition, Affekt)
  • symptombezoge, direktive Arbeit am Symptom (Untergewicht, Gewichtsphobie, Körperschemastörung)
  • Körperkonfrontation, Abbau von körperbezogenen Vermeidungs- und Kontrollverhalten

Tiefenpsychologische Psychotherapie

Grundmodell

  • Reaktivierung unbewußter, unzureichend gut gelöster Konflikte bei gegebenem Aktualanlaß (Trennung, Abschied, Tod, heftige Veränderungen, Schwellensituationen)
  • Dekompensieren der bis dato ausreichenden Abwehrmechanismen

Grundmodell

  • Unzulänglich befriedigte Bedürfnisse und Wünsche wurden abgewehrt, die dabei entstandene Enttäuschung und Wut wurden verleugnet.
  • Aktualkonflikt und Dekompensation führen zur Symptombildung.

Grundmodell

  • Wendung der aggressiven Impulse gegen das Selbst mit Selbstzerstörung durch die Anorexie (der Körper als Objekt)
  • Anorexia nervosa als Störung des aggressiven Austauschs mit dem Objekt
  • im Kontakt mit den Bezugspersonen ist aggressive Auseinandersetzung nicht ohne Weiteres möglich

Schwerpunkt

  • Anerkennen der frühen Bedürfnisse und der vermutlichen Mangelversorgung bzw. der Dysbalance in der Versorgung
  • AN als frühe Störung bzw. Regression auf frühere Entwicklungsstufen, die ein stärkeres Maß an Halt und Begrenzung erfordern
  • Schwierigkeit: Balance von Versorgungswünschen und Ablösungsimpulsen vor dem Hintergrund der Adoleszenz zu finden

Technik

  • neutrales Herangehen, Abstinenz
  • weniger konkrete Symptombezogenheit
  • Schwerpunkt liegt auf dem tiefenpsychologischen Verständnis des Gewordenseins, der zugrunde liegenden Konflikte
  • Arbeit mit dem Unbewußten
  • Deutungen von Widerstand, Abwehr, Übertragung und  Gegenübertragung

Technik

  • Konkrete Technik im Umgang mit gewollter/notwendiger Gewichtssteigerung?
  • Wie muss der Rahmen aussehen im Hinblick auf das Gewicht?

Block II
Konfliktfelder einer integrierten Behandlunsstrategie

Defizite eines isolieten Vorgehens

Biologische Psychiatrie

  • Bei allein psychiatrischem Herangehen ist die Motivation des Patienten meist nicht über Akutphase hinaus aufrecht zu erhalten.
  • Gewichtsstabilisierung führt nicht automatisch zu verbesserter psychischer Gesundheit.
  • Fortbestehen innere Erkrankungsmechanismen, wie z.B. Aktualkonflikte oder Selbstwertaspekte werden nicht berücksichtigt.

Verhaltenstherapie

  • Lässt die starke Sympomorientierung der therapeutischen Arbeit wesentliche innerseelische Aspekte des Patienten außen vor?
  • Entstehen durch die stärker direktive Arbeit und die Festlegung eines oft nicht-konsensuellen Behandlungsziels einen Rückfall begünstigende Effekte?

Tiefenpsychologische Psychotherapie

  • Als Therapieoption ohne Berücksichtigung des Gewichts nicht ausreichend im Falle der massiven Gewichtsreduktion.
  • Erfahrungsgemäß ist davon das massive Untergewicht nicht ausreichend (zügig) behandelbar.Erhöhte körperliche Gefahr: Es sind keine Erwachsenen, sondern junge Mädchen in der Pubertät (bedenke: Ausbleiben der Menstruation, Knochendichteverminderung, Blutwertveränderungen, Verminderung des Hirnvolumens).

Konfliktfelder im Integrationsbemühen

Konfliktfelder im Integrationsbemühen

  • Widerspricht ein das Gewicht aktiv behandelndes Vorgehen dem anlytischen/tiefenpsychologischen Gedanken?
  • Ist es ein Bruch der tiefenpsychologisch notwendigen Abstinenz, wenn es zur Festlegung von spezifischen Zielen (z.B. Gewichtsziel) kommt- die Behandlung ist nicht, wie sonst, ergebnissoffen möglich.
  • Kommt es zum Forcieren bestimmter Übertragungskonstellationen durch direktive Behandlungsanteile?

Integration

Integration

  • Aspekte biologischer Psychiatrie und der Verhaltenstherapie ergänzen sich gut.
  • Eine angemessene Versorgung im Hinblick auf den Körper ist unumgehbar.
  • Auf den ersten Blick scheint die TP am wenigsten gut integrierbar.

Integration

  • Rahmengestaltung besteht als zentrale Frage einer tiefenpsychologisch-orientierten Therapie.
  • Eine angemessene Versorgung im Hinblick auf den Körper ist unumgehbar. (im Gegensatz zu den Eltern)
  • Beschränkung und haltgebende Begrenzungen müssen existieren.
  • Dem impliziten Wunsch nach Versorgung und Halt kann man gerecht werden.
  • Damit ist ein Anerkennung und Bearbeiten der Gewichtsproblematik als fester Bestandteil der Therapie/ des Rahmens möglich.

Diskussion

Ist ein Stufenplan bzw. eine vereinbarte Gewichtszunahme als Rahmensetzung wichtig oder notwendig?
Kann die Gewichtszunahme nicht erst Folge einer gelungenen Psychotherapie sein?
Ist bei stärkerem Gewichtsverlust aufgrund der anzunehmenden Funktionsstörung des Gehirns eine Psychotherapie sinnvoll bzw. möglich?
Ist eine Integration verschiedener Therapieschulen überhaupt möglich, oder verwaschen dadurch wesentliche Elemente so stark, dass Wirksamkeit verloren geht?

Block III
Stationäres integriertes Behandlungskonzept für Jugendliche

Therapeutische Bausteine

Psychotherapie

  • drei Einheiten tiefenpsychologisch orientierte Gruppenpsychotherapie von je 60 Minuten mit flankierender kommunikativer Bewegungstherapie, pro Woche für maximal 12 Wochen
  • eine Einheit tiefenpsychologisch orientierte Einzeltherapie pro Woche von je 50 Minuten
  • durch feste Einzeltherapeuten (Psychotherapeut, Ärztin)
  • ein Bezugspersonengespräch pro Woche von je 50 Minuten

Zusätzliche Therapieangebote

  • Ergotherapiegruppe, Bildermalen und Musikgruppe
  • durch Ergotherapeuten in fester Gruppenzusammensetzung
  • Einzelergotherapie

Bildermalen

Zusätzliche Therapieangebote

  • Unterstützung bei den Mahlzeiten durch das Pflegeteam
  • Kochgruppe durch Ergotherapeuten und Pflegeteam
  • Entspannungsgruppe durch das Pflegeteam

Kochgruppe