01.11.2012
Kinderlähmung: Spätfolgen auch nach 20 Jahren möglich/ Jubiläumsveranstaltung „Postpoliosyndrom aktuell“ anlässlich des Weltpoliotages
Vorträge zur Prävention, Therapie und Rehabilitation von PPS-Patienten am 9. November / Selbsthilfegruppe Polio Jena feiert 20-jähriges Bestehen
Jena (ukj/me). Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheint Kinderlähmung, im Fachbegriff Poliomyelitis, in Deutschland endgültig eingedämmt zu sein. Die Krankheit und ihre Auswirkungen geraten so immer mehr in Vergessenheit. Jedoch kommt es häufig Jahrzehnte nach der Ersterkrankung zu Folgestörungen und neuen Symptomen, die als Post-Polio-Syndrom definiert werden.
„Post-Polio-Syndrom, kurz PPS, bedeutet, dass nach einer Phase der Rehabilitation und Stabilität zunehmende Kraftverluste, neue Lähmungen, muskuloskelettale Schmerzen, Atmungseinschränkungen, gegebenenfalls auch Harninkontinenz mit einer deutlichen Reduktion der Alltagsfunktionen eintreten. Dies geschieht häufig erst 20-30 Jahre nach überstandener Polio bei ca. drei Viertel der Patienten, die an Poliomyelitis erkrankt waren“, berichtet Dr. Barbara Bocker, Oberärztin am Universitätsklinikum Jena (UKJ) und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bundesverbandes Poliomyelitis Deutschland. In die Spezialsprechstunde des Institutes für Physiotherapie am UKJ kommen jährlich 200 betroffene Patienten. Schätzungen gehen deutschlandweit von bis zu 100.000 PPS-Betroffenen aus.
Die Veranstaltungsserie „Postpoliosyndrom aktuell“, welche alle zwei Jahre stattfindet, behandelt die gefährliche Kinderkrankheit Polio und das PPS umfassend in Vorträgen. Dies geschieht anlässlich des Welt-Polio-Tages am 28.10.2012. Gleichzeitig blickt die Selbsthilfegruppe Polio Jena auf 20 Jahre Arbeit zurück. Experten informieren über Prävention durch Impfung sowie Behandlungsoptionen für PPS-Erkrankte und bieten eine sozialrechtliche Beratung. Das Institut für Physiotherapie des Uniklinikums Jena und der Bundesverband Poliomyelitis e.V. laden alle Interessierten am 9. November 2012 um 13 Uhr in den Hörsaal 5, Campus Abbe-Platz, ein.
Ursula Schäfer, Leiterin der Selbsthilfegruppe Polio Jena, gehört zu den Betroffenen. Sie spürt täglich die Auswirkungen von PPS. Schäfer vergleicht den Zustand eines Polio-Erkrankten mit einem Hochleistungssportler, der ständig ohne Pausen beansprucht wird. „Muskelschwäche und Lähmungen nehmen zu oder treten neu auf. Müdigkeit, Erschöpfung und eine starke Kälteintoleranz sind Erscheinungen von PPS.“ Als Anlaufstelle steht die Selbsthilfegruppe Polio Jena den PPS-Patienten der Region zur Seite. Außerdem leisten die Mitglieder der Selbsthilfegruppe Aufklärungsarbeit zu Schutzimpfungen gegen Polio. „Wir möchten ebenso dazu beitragen, neuste wissenschaftliche Erkenntnisse über das Krankheitsbild zu vermitteln“, unterstreicht Ursula Schäfer. Eine entsprechende wissenschaftliche Begleitung der Patienten erfolgt im Institut für Physiotherapie am Universitätsklinikum Jena.
Der Umgang mit dem Postpoliosyndrom ist ein weiterer Schwerpunkt der Veranstaltung am 9. November. „Neben Polio-Patienten spricht die Veranstaltung medizinische Kollegen an, wobei eine Hilfestellung für die Behandlung der betreffenden Patienten geben wird. Dazu gehört auch, über aktuelle Behandlungsmethoden, deren apparative Unterstützung, medikamentöse und rehabilitative Maßnahmen sowie Optionen der Hilfsmittelversorgung zu sprechen. In der Diskussion steht nach wie vor die Frage, wie belastbar Postpoliopatienten sind und was man ihnen therapeutisch zumuten kann und muss.“, erklärt Dr. Bocker.
Darüber hinaus warnt Dr. Bocker davor, dass Kinderlähmung in Deutschland aufgrund des Reiseverkehrs und der fehlenden Impfpflicht wieder auftreten könnte. Ursula Schäfer schließt sich Ihrem Urteil an. „Man darf die Gefahr der Krankheit auch heute nicht unterschätzen. Darin sind sich Virologen einig. Nigeria gilt heute als Epizentrum des Polio-Virus, aber auch Indien, Pakistan und Afghanistan sind betroffene Länder.“