HIV-Regional
Studienprojekt: Regionale Unterschiede des HIV-Test-Verhaltens
Nach Schätzungen des Robert-Koch-Institutes leben circa 80.000 Menschen in Deutschland mit einer HIV-Infektion (Stand: Ende 2013). Von diesen werden 54.000 mit einer antiretroviralen Therapie behandelt. Die Zahl der unbehandelten Patienten setzt sich je zur Hälfte aus Patienten zusammen, welche ihre Diagnose kennen und noch nicht behandelt werden und Patienten, deren Infektion bisher nicht festgestellt wurde. Diese Gruppe ist, ergänzt um virologisch unzureichend kontrollierte Patienten, der Treiber der unverändert hohen Neuinfektionsraten. Inzidenz und Prävalenz der HIV-Infektion weisen starke regionale Unterschiede auf, die sich auch innerhalb der neuen Bundesländer wiederfinden (1).
In den letzten Jahren ist gesamtdeutsch eine Zunahme der HIV-Neudiagnosen zu verzeichnen. Zuletzt waren es im Jahr 2013 3500, wobei 31,4% dieser Patienten bereits einen fortgeschrittenen Immundefekt mit einer absoluten CD4-Zellzahl <200/µl aufwiesen. In Thüringen war unter den Neudiagnosen sogar zu 37,5% bereits ein fortgeschrittener Immundefekt zu diagnostizieren (1). Anhand des Immunstatus ist bei Diagnosestellung ein ungefährer Rückschluss auf den Infektionszeitpunkt möglich (2). Laut Robert-Koch-Institut ist diese Rückrechnung nach folgendem Model möglich: Eine „frühe“ Diagnose (im Median ein Jahr nach der Infektion) liegt vor, wenn die CD4-Zellen 500/µl übersteigen. Die weitere Einteilung erfolgt in die Stufen „mittel“ (CD4-Zellzahl 350-500/µl; im Median 2 Jahre nach der Infektion), „spät“ (CD4-Zellzahl 200-350/µl; im Median 5 Jahre nach der Infektion) und „sehr spät“ (CD4-Zellzahl <200/µl); im Median 9 Jahre nach der Infektion) (3).
In Deutschland werden damit 31,4% und im Niedrigprävalenzgebiet Thüringen sogar 37,5% der HIV-Neudiagnosen erst circa 9 Jahre nach dem Infektionszeitpunkt und bei CD4-Werten von <200/µl gestellt. Zum einen geht von diesen Patienten über Jahre ein unkontrolliertes Transmissionsrisiko aus, zum anderen ist die Lebenserwartung dieser Patienten mit fortgeschrittenem Immundefekt bei Diagnosestellung im Vergleich zu HIV-positiven mit gutem Immunstatus stark eingeschränkt (4, 5).
In einer multizentrischen, prospektiven Studie lag die Sterblichkeitsrate bei 23,3 auf 1000 Lebensjahre, falls die ART bei einer CD4-Zellzahl <350/µl initiiert wurde. Im Vergleich dazu hatten Patienten, bei denen die ART bei einer CD4-Zellzahl >350/µl begonnen wurde, nur eine Sterblichkeitsrate von 11,3 auf 1000 Lebensjahre (6).
Aus der klinischen Routine ergibt sich die Hypothese, dass die CD4-Zellzahl bei Testung in einer Klinik niedriger, die Viruslast höher und das Auftreten von AIDS-definierenden Erkrankungen wahrscheinlicher ist als in anderen Einrichtungen. Diese Hypothese erscheint durch den Hintergrund begründet, dass late presenter (nach WHO definiert als Patienten mit CD4-Zellzahl <350/µl bei Diagnosestellung) aufgrund von AIDS-definierenden-Erkrankungen auf das Vorliegen einer HIV-Infektion hin getestet werden. Dies geschieht zumeist in der klinischen Differentialdiagnostik im Krankenhaus. Erste Hinweise, die diese Hypothese untermauern, wurden im Rahmen einer Pilotstudie für das Niedrigprävalenzgebiet Sachsen-Anhalt publiziert: Hier wurde der HIV-Test, welcher zur Neudiagnose im Jahr 2014 führte, in 77% der Fälle in einer Klinik durchgeführt (13% ambulant durch Hausarzt, 6% Gesundheitsamt, 4% AIDS-Hilfe). Davon waren 54% late presenter (7).
Das Studienprojekt soll die HIV-Neuinfektionen aus dem Jahr 2014 vor dem Hintergrund dieser Hypothese multizentrisch analysieren. Dazu ist im Wesentlichen die Erhebung allgemeiner Daten (Geschlecht, Größe, Gewicht, Geburtsort) sowie immunologischer, virologischer und klinischer Daten (initiale CD4-Zellzahl, Viruslast, Vorhandensein AIDS-definierender Erkrankungen) geplant. Außerdem sollen Daten der speziellen Anamnese (Wer hat den HIV-Test veranlasst? Warum wurde der HIV-Test veranlasst? Was ist das Risikoprofil des Patienten? Wie ist der Patient auf das spezialärztliche Zentrum aufmerksam geworden?) erhoben werden.
Die teilnehmenden Zentren setzen sich aus Hochschulambulanzen (Universitätskliniken Rostock, Jena und Magdeburg) und HIV-Schwerpunktpraxen in Ostdeutschland (Erfurt: PD Dr. R. Lundershausen, Chemnitz: Dr. S. Rößler und Dr. T. Heuchel, Weimar: Dr. T. Seidel) zusammen. Zum Vergleich mit der Situation in Westdeutschland ist die Einbeziehung einer HIV-Schwerpunktpraxis in München (Dr. H. Jäger) vorgesehen.
Konkret sollen folgende wissenschaftliche Fragestellungen beantwortet werden:
- Wie ist die prozentuale Verteilung der HIV testenden Einrichtungen bei den HIV-Neudiagnosen in Gebieten unterschiedlicher Prävalenz?
- Wie ist die prozentuale Verteilung der HIV testenden Einrichtungen bei den HIV-Neudiagnosen unter Berücksichtigung der Testindikation sowie der Ethnie und des Risikoprofils des Patienten?
- Wie viel Prozent der HIV-Teste, welche zu einer Neudiagnose führten, wurden in einer Klinik bzw. in einer anderen Einrichtung veranlasst?
- Besteht ein signifikanter Unterschied in der CD4-Zellzahl und/oder Viruslast bezüglich der Einrichtungsart, in der die Diagnosestellung erfolgte?
- Wie groß ist der Anteil an AIDS-definierenden Erkrankungen bei Diagnosestellung, aufgeschlüsselt nach Einrichtungsart und in Abhängigkeit der regionalen Prävalenz?
Falls die Hypothese belegt werden kann, ist neben einer frühzeitigeren und häufigeren HIV-Testung in der hausärztlichen Versorgung bei entsprechendem Risikoprofil oder Vorliegen von Indikatorerkrankungen, auch eine Intensivierung der öffentlichen Aufklärungsarbeit mit dem Ziel einer früheren Diagnosestellung erforderlich, damit die Prognose der HIV-Infektion langfristig verbessert werden kann.
Literatur:
- Robert Koch Institut. HIV/AIDS-Eckdaten in Deutschland und den Bundesländern. 2014 03.11.2014 [cited 2015 13.09.2015]; Available from: http://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/H/HIVAIDS/Epidemiologie/Daten_und_Berichte/Eckdaten.html
- Lodi S, Phillips A, Touloumi G, Geskus R, Meyer L, Thiebaut R, et al. Time from human immunodeficiency virus seroconversion to reaching CD4+ cell count thresholds <200, <350, and <500 Cells/mm(3): assessment of need following changes in treatment guidelines. Clin Infect Dis. 2011 Oct;53(8):817-25.
- Robert Koch Institut. Schätzung der Prävalenz und Inzidenz von HIV-Infektionen in Deutschland, Stand Ende 2012. Epidemiologisches Bulletin. 2012;47:470.
- Antiretroviral Therapy Cohort C. Importance of baseline prognostic factors with increasing time since initiation of highly active antiretroviral therapy: collaborative analysis of cohorts of HIV-1-infected patients. J Acquir Immune Defic Syndr. 2007 Dec 15;46(5):607-15.
- May MT, Gompels M, Delpech V, Porter K, Orkin C, Kegg S, et al. Impact on life expectancy of HIV-1 positive individuals of CD4+ cell count and viral load response to antiretroviral therapy. AIDS. 2014 May 15;28(8):1193-202.
- Samji H, Cescon A, Hogg RS, Modur SP, Althoff KN, Buchacz K, et al. Closing the gap: increases in life expectancy among treated HIV-positive individuals in the United States and Canada. PLoS One. 2013;8(12):e81355.
- Schulz C, Selgrad M, Färber J, Körber S, Schlüter D, Malfertheiner P. Hohe Zahl an HIV-Spätdiagnosen in Sachsen-Anhalt. Ärzteblatt Sachsen-Anhalt. 2015;26:27-9.